Schaftrieb Ötztal, September 2010.
Für den Alpenverein Edelweiß führte ich von 16. bis 19. September 2010 eine Tour auf die Kreuzspitze (3455 m) und zum Schaftrieb ins Ötztal über das Niederjoch (3019 m). Es war eindrucksvoll mitzuerleben, wie Hunderte von Schafen über den Niederjochferner und das Niederjoch vom Ötztal zurück nach Südtirol getrieben wurden.
Freitag, 17. September 2010:
Der Wetterbericht für das Wochenende ist nicht berauschend: Wechselhaftes Wetter wird vorhergesagt. Und so ist es auch: Wir haben abwechselnd Nebel, Sonne, Schnee, Regen.
Am Freitagmorgen steckt die Martin-Busch-Hütte (2501 m) im dichten Nebel und wir suchen schon nach einer Alternativ-Tour zur Kreuzspitze (3455 m). Dann aber entschließen wir uns doch für die Kreuzspitze. Die Nebeldecke lichtet sich für kurze Zeit und gibt das tolle Panorama frei.
Leider zieht es später wieder zu und am Gipfel fängt es wieder zu schneien an.
Beim Abstieg treffen wir auf die Treiber, die schon den ganzen Tag die weit verstreuten Schafe zusammentreiben. Keine leichte Aufgabe im Nebel. Wir dürfen ein schwarzes Lamm – laut Auskünften erst einen Tag alt – hinuntertragen. Es ist zwar schon ganz gut zu Fuß, aber der Weg zur Martin-Busch-Hütte ist doch ein bisschen zu weit. Bei der Hütte werden alle Schafe, die am folgenden Tag nach Südtirol sollen, in einem so genannten „Schafhaag“ (Schafpferch) gesammelt. Wir schätzen sie auf 500 Stück, doch es sind 1900 bis 2000 Schafe.
Samstag, 18. September 2010:
Um 7 Uhr geht es los. Rund um die Martin-Busch-Hütte liegt wieder der Nebel. Erst hören wir nur das Blöken der Schafe, das Gebimmel der Glocken und die Rufe der Treiber. Dann tauchen die Schafe aus dem Nebel auf und ziehen Richtung Niederjochferner.
Inzwischen sind wir oberhalb der Nebelgrenze. Der Blick auf die frisch verschneite Kreuzspitze (im Bild links) und die umliegenden Berge ist großartig.
Vor der Überquerung des Gletschers gibt es noch eine Rast für Tier und Mensch.
Dann geht es über den Niederjochferner. Voran gehen ein paar Treiber mit Ziegen, die Schafe folgen im Gänsemarsch über den Gletscher. Weiter geht es über Geröll zur Similaunhütte und gleich wieder bergab über einen steilen Pfad hinunter in Richtung Schnalstal.
Aber nicht alle Schafe wollen dem Tross folgen. Erst drei und später auch weitere Schafe wollen partout am Gletscher weitermarschieren. Ich beobachte die Abtrünnigen, erwarte eine Reaktion der Treiber, doch die sind mit anderen Dingen beschäftigt und kümmern sich nicht um die 15 Abweichler. Also sprinte ich ihnen nach und versuche, sie auf irgendeinem Weg auf das Niederjoch zu treiben. Überraschenderweise folgen sie mir am Gletscher ganz gut und setzen schön brav ihren Weg fort. Unterhalb des Niederjochs wird es allerdings mühsam: eisdurchsetztes, rutschiges Geröll und große, wackelige Blöcke. Und dazu die 15 Schafe, die jetzt nicht mehr so überzeugt sind, dass sie da wirklich weiter hinaufwollen. Ich drehe mich immer wieder um, doch es ist noch immer kein Treiber auf dem Weg zu mir. Sie beobachten mich wohl und sehen, dass ich das wohl schaffen würde. Schließlich kommen auch „meine“ Schafe wohlbehalten am Niederjoch an und werden dort gleich von den Treibern übernommen und talwärts getrieben.
Die Mitglieder unserer Gruppe sind beim Schaftrieb hautnah dabei, gehen mit den Schafen mit. Ab und zu achten sie auch darauf, dass keines der Schafe zurückbleibt oder ausbricht. Alles natürlich immer unter Aufsicht und Anleitung der Treiber.
Nach dem großen Tross (1900 bis 2000 Schafe) kommen etwas später auch noch die Mutterschafe, deren Lämmer erst 1-2 Tage alt sind, sowie die „hochschwangeren“ Schafe. Die kleinen Lämmer (auch „unser“ schwarzes Lamm ist darunter) werden allerdings in speziellen „Rückenkraxen“ getragen (siehe die letzten beiden Fotos der Bildergalerie). Sie können den weiten Weg noch nicht selbständig bewältigen. Bei der Similaunhütte dürfen die kleinen Lämmer kurz heraus, um zu trinken. Dann macht sich auch diese kleine auf den steilen Weg abwärts.
Bergung aus der Gletscherspalte
Ich bin mit „meiner“ kleinen Gruppe so beschäftigt, dass ich gar nicht mitbekomme, dass es weiter unten am Gletscher zu zwei Zwischenfällen kommt. Der Niederjochferner ist zwar problemlos ohne Seil zu überqueren, doch an manchen Stellen gibt es doch Spalten. Und diese Spalten werden manchen Schafen (beinahe) zum Verhängnis. Zwei Schafe stürzen fast in eine Spalte, bleiben am Rand liegen und können gerettet werden. Eines jedoch fällt in eine tiefe Spalte und es besteht keine Möglichkeit zur Rettung. Auf der Similaunhütte treffen die Treiber dann aber auf eine Gruppe der italienischen Guardia di Finanza (Finanzwacht). Diese Männer haben sämtliches Equipment (Seile, Seilrollen, etc.) für eine Spaltenbergung mit. Als sie von dem abgestürzten Schaf hören, wollen sie sofort helfen. Fritz aus meiner Gruppe hat sich die Stelle gemerkt, an der das Schaf in die Spalte gestürzt ist. Er führt die „Finanzer“ also zu der Stelle und die Bergung beginnt. Fritz muss die Geschichte nachher mindestens dreimal erzählen: Ein Finanzer wird in die Spalte abgeseilt, findet das Schaf – „es lebt“ – legt es in zwei Klettergurte. Die anderen ziehen es hinauf. Plötzlich lässt das Schaf den Kopf hängen, es ist offensichtlich tot. Die Finanzer ziehen es aus der Spalte und plötzlich hebt das Schaf doch wieder den Kopf. Die Männer nehmen eine Rettungsdecke, wickeln das Schaf ein, massieren es, organisieren eine Plane und einen Stock, um es abzutransportieren.
Ein Jahr später erfahre ich, dass „unser“ gerettetes Schaf überlebt, wenig später ein Lamm zur Welt gebracht hat und im darauffolgenden Jahr wieder mit dabei ist …
Barbara Haid | Alpendiva, 05.07.2012